Kollars eingeholt, Großmeisterquintett führt (OIBM, 7. Runde)
Wer nach dem Ende der siebten Runde noch nicht seine Siegerwette abgegeben hat, der ist zu spät dran, um den Preis für den richtigen Tipp zu gewinnen. Wer sie abgegeben hat, braucht Glück oder hellseherische Fähigkeiten. Zwei Runden vor Schluss zeichnet sich nicht ab, wer am Ende oben stehen wird.
Die alleinige Führung von Dmitrij Kollars währte nur einen Tag. Dem Nationalspieler war sein Kurzremis in der siebten Runde gegen den an zwei gesetzten Eltaj Safarli ein wenig unangenehm. Aber es war eine nachvollziehbare, naheliegende Entscheidung: Schwarz gegen einen starken Großmeister, der per schottischem Vierspringerspiel sogleich andeutete, dass sich seine Ambition an diesem Tag in Grenzen hält. Warum nicht einen quasi freien Tag nehmen, um sich dann mit voller Kraft und zudem mit den weißen Steinen in den Endspurt zu stürzen?
Die Punkteteilung am ersten Brett eröffnete den Verfolgern die Chance, zu Kollars aufzuschließen. Vier haben sie genutzt. Vor der achten Runde führen fünf Großmeister mit jeweils sechs Punkten das Feld an. Dahinter lauert eine Gruppe von 18 Verfolgern mit jeweils 5,5 Punkten.
Als Erster zu Kollars aufgeschlossen hatte der georgische Schnellspieler Giga Quparadze, der am Ende eines taktischen Handgemenges vor einem günstigen Schwerfigurenendspiel mit Mehrbauer und besserer Struktur saß, das er leicht verwertete. Bei den anderen drei dauerte es deutlich länger, und es war neben Kampfgeist Glück erforderlich.
Venkataraman Karthik hatte sich gegen Leonardo Costa zwar einen Mehrbauern erkämpft, aber sah lange nicht danach aus, als würde sich dieser Mehrbesitz verwerten lassen. Auf der Suche nach Aktivität griff Costa im 53. Zug fehl, lief in einen Konter, und nach 55 Zügen war es schon vorbei. Während Karthik nun ganz oben um den großen Preis mitspielt, bedeutet die Niederlage einen herben Dämpfer für die GM-Norm-Ambition des 16-jährigen Münchners.
Titas Stremavicius hatte sich mit den schwarzen Steinen schon nach 22 Zügen gegen Jacek Stopa ein Endspiel mit Mehrqualität erkämpft, aber auf Kosten einer ruinierten Struktur. Fünf Stunden lang waren die Remischancen des polnischen Großmeisters intakt. Dann entging ihm im 66. Zug der letzte Trick des Litauers, und nach 68 Zügen war die Messe gelesen. Das Los bescherte Stremavicius in der Vorschlussrunde eine weitere Schwarzpartie: gegen Dmitrij Kollars am ersten Brett, eine Art Revanche für Schacholympia, wo Kollars Team in der dritten Runde den Litauern überraschend unterlag.
Dass Elham Amar sich unter den Spitzenreitern mit sechs Punkten einreihen würde, daran hat er ausgangs der Eröffnung wahrscheinlich selbst nicht geglaubt. Gegen den Schweizer FM Igor Schlegel stand der Norweger mit einem offenen König unter Beschuss denkbar schlecht, aber schaffte es erst einmal, alle unmittelbaren Drohungen abzuwehren. Der vermeintliche Gewinnzug des Schweizers, 34.Tdd3, hatte einen Haken, eine nicht offensichtliche Verteidigung, die das Geschehen in ein etwa ausgeglichenes Endspiel münden ließ. Dann passierte, was beim Schach oft passiert: Wahrscheinlich frustriert vom entglittenen Gewinn, entglitt dem Schweizer auch noch der halbe Punkt.
In der Gruppe der 18 Verfolger finden sich reihenweise Anwärter auf Alters- und Ratingpreise sowie den Frauenpreis. Schachtennis-Vizeweltmeister FM Alexander Gschiel aus Österreich etwa (der im Tennis etwa so gut ist wie im Schach) führt mit 5,5 Zählern die U18-Konkurrenz an.
In der U16 hat sich der auf GM-Norm-Kurs segelnde Marius Deuer nach seinem Siebtrundenremis gegen Kacper Piorun zwar um einen halben Punkt von seinem Dauerkonkurrenten Leonardo Costa abgesetzt, liegt aber gleichauf mit FM Zi Han Goh aus Singapur. Der 15-Jährige aus dem WM-Ausrichterland gilt als eines der größten Talente Singapurs. Trotz intensiver schulischer Verpflichtungen und einiger außerschulischer Aktivitäten will er Singapurs nächster Großmeister werden.
In seiner Heimat sorgte Zi Han Goh im Lauf des Jahres 2022 für Aufsehen, als er nach dem russischen Überfall auf die Ukraine durch Schachunterricht und Simultanvorstellungen Geld für ukrainische Flüchtlinge sammelte. Die Idee war ihm gekommen, weil er bis dahin wöchentlich mit dem ukrainischen Großmeister Yuri Vovk trainiert hatte. 13.000 Dollar kamen zusammen. „Beim Schach geht es für nicht nur ums Gewinnen und darum, mein Rating zu verbessen. Ich benutze es auch, um der Gesellschaft zurückzugeben“, erklärte Goh in einem TV-Interview.
In der U2400-Klasse stand FM Ulrich Weber vom SV Hofheim während der siebten Runde kurz davor, sich ein wenig von den Mitbewerbern abzusetzen. Der Zweitligaspieler zwang der kasachischen Nummer eins Rinat Jumabayev eine lange Verteidigungsschlacht auf, die der Großmeister letztlich erfolgreich absolvierte.
Im Kampf um den Frauenpreis hat Yelyzaveta Hrebenshchykova mit 5,5 Zählern die alleinige Führung übernommen. Die Ukrainerin gewann glatt gegen CM Jonas Rempe, der kein Mittel gegen den Sizilianer seiner Gegenspielerin fand.