Aktuelle Infos und Beiträge zur OIBM

Die Abtauschvariante der Französischen Verteidigung zu spielen, sei eine Schande, sagte einst Michail Tal. Die größten Französisch-Fachleute vergangener Dekaden, Viktor Kortschnoi und Wolfgang Uhlmann, nahmen die Abtauschvariante nicht ernst. Kortschnoi pflegte gar, böse Blicke übers Brett zu senden, sobald Weiß 3.exd5 spielte. Und es sieht ja auch aus, als verzichte Weiß per Abtauschvariante freiwillig auf zwei Vorteile, die Schwarz einräumt: Den potenziellen Raumvorteil und das Spiel gegen den „schlechten“ französischen Läufer.

Andererseits hat Weiß im vierten Zug ein Tempo zur Verfügung, mit dem er das Geschehen in die gewünschte Richtung steuern kann. Und diese Richtung lautet in aller Regel c2-c4 inklusive der Absicht, eine Isolanistellung zu spielen. In einer Zeit, in der sich ohnehin kaum irgendwo Vorteil für Weiß finden lässt, erlebt Französisch-Abtausch mit c4 seit Jahren eine kleine Renaissance.

Patrick Bossinger. | Foto: Sandra Schmidt

Patrick Bossinger vom SV Jedesheim gehört zu denjenigen, die Französisch-Abtausch spielen – und das mit Erfolg. Dass die Damenabgetauscht waren, hielt ihn in der sechste Runde nicht davon ab, eine Qualität für starkes Figurenspiel in Geschäft zu stecken. Wenig später folgte das zweite Qualitätsopfer, da ging es schon um Matt. Am Ende noch ein Turmopfer, das die Partie krönte.

Wenn die Jedesheimer Boys mit von der Partie sind, ist das im Turniersaal kaum zu übersehen. | Foto: Sandra Schmidt

Bossinger gewinnt den Schönheitspreis für diese Partie der sechsten Runde. Er hat sie für das Turnierblog kommentiert:

Wer nach dem Ende der siebten Runde noch nicht seine Siegerwette abgegeben hat, der ist zu spät dran, um den Preis für den richtigen Tipp zu gewinnen. Wer sie abgegeben hat, braucht Glück oder hellseherische Fähigkeiten. Zwei Runden vor Schluss zeichnet sich nicht ab, wer am Ende oben stehen wird.

Die Abgabefrist für die Siegerwette ist mit Ende der siebten Runde abgelaufen. | Foto: Sandra Schmidt

Die alleinige Führung von Dmitrij Kollars währte nur einen Tag. Dem Nationalspieler war sein Kurzremis in der siebten Runde gegen den an zwei gesetzten Eltaj Safarli ein wenig unangenehm. Aber es war eine nachvollziehbare, naheliegende Entscheidung: Schwarz gegen einen starken Großmeister, der per schottischem Vierspringerspiel sogleich andeutete, dass sich seine Ambition an diesem Tag in Grenzen hält. Warum nicht einen quasi freien Tag nehmen, um sich dann mit voller Kraft und zudem mit den weißen Steinen in den Endspurt zu stürzen?

Hallo, Dmitrij: So fing die Partie am ersten Brett an. Fünf Minuten später war sie vorbei. | Foto: Sandra Schmidt

Die Punkteteilung am ersten Brett eröffnete den Verfolgern die Chance, zu Kollars aufzuschließen. Vier haben sie genutzt. Vor der achten Runde führen fünf Großmeister mit jeweils sechs Punkten das Feld an. Dahinter lauert eine Gruppe von 18 Verfolgern mit jeweils 5,5 Punkten.

Als Erster zu Kollars aufgeschlossen hatte der georgische Schnellspieler Giga Quparadze, der am Ende eines taktischen Handgemenges vor einem günstigen Schwerfigurenendspiel mit Mehrbauer und besserer Struktur saß, das er leicht verwertete. Bei den anderen drei dauerte es deutlich länger, und es war neben Kampfgeist Glück erforderlich.

Mit 6/7 Teil des Führungsquintetts: Venkataram Karthik. | Foto: Sandra Schmidt

Venkataraman Karthik hatte sich gegen Leonardo Costa zwar einen Mehrbauern erkämpft, aber sah lange nicht danach aus, als würde sich dieser Mehrbesitz verwerten lassen. Auf der Suche nach Aktivität griff Costa im 53. Zug fehl, lief in einen Konter, und nach 55 Zügen war es schon vorbei. Während Karthik nun ganz oben um den großen Preis mitspielt, bedeutet die Niederlage einen herben Dämpfer für die GM-Norm-Ambition des 16-jährigen Münchners.

Der letzte Trick gewann: Titas Stremavicius. | Foto: Sandra Schmidt

Titas Stremavicius hatte sich mit den schwarzen Steinen schon nach 22 Zügen gegen Jacek Stopa ein Endspiel mit Mehrqualität erkämpft, aber auf Kosten einer ruinierten Struktur. Fünf Stunden lang waren die Remischancen des polnischen Großmeisters intakt. Dann entging ihm im 66. Zug der letzte Trick des Litauers, und nach 68 Zügen war die Messe gelesen. Das Los bescherte Stremavicius in der Vorschlussrunde eine weitere Schwarzpartie: gegen Dmitrij Kollars am ersten Brett, eine Art Revanche für Schacholympia, wo Kollars Team in der dritten Runde den Litauern überraschend unterlag.

Es sah überhaupt nicht danach aus, aber auch Elham Amar schaffte es, mit Dmitrij Kollars gleichzuziehen. | Foto: Sandra Schmidt

Dass Elham Amar sich unter den Spitzenreitern mit sechs Punkten einreihen würde, daran hat er ausgangs der Eröffnung wahrscheinlich selbst nicht geglaubt. Gegen den Schweizer FM Igor Schlegel stand der Norweger mit einem offenen König unter Beschuss denkbar schlecht, aber schaffte es erst einmal, alle unmittelbaren Drohungen abzuwehren. Der vermeintliche Gewinnzug des Schweizers, 34.Tdd3, hatte einen Haken, eine nicht offensichtliche Verteidigung, die das Geschehen in ein etwa ausgeglichenes Endspiel münden ließ. Dann passierte, was beim Schach oft passiert: Wahrscheinlich frustriert vom entglittenen Gewinn, entglitt dem Schweizer auch noch der halbe Punkt.

34.Tdd3 hätte die Partie gewonnen – gäbe es nicht die trickreiche Verteidigung 34…Df1+! 35.Kxa2 Df7! und Weiß kann Damentausch nicht ausweichen. Nach zB 36.Te3+ zieht der König mit Schachgebot aus dem Schach.

In der Gruppe der 18 Verfolger finden sich reihenweise Anwärter auf Alters- und Ratingpreise sowie den Frauenpreis. Schachtennis-Vizeweltmeister FM Alexander Gschiel aus Österreich etwa (der im Tennis etwa so gut ist wie im Schach) führt mit 5,5 Zählern die U18-Konkurrenz an.

Kampfgeist: Nach vier Niederlagen in Folge sicherte sich Atticus Nguyen Trung, Jahrgang 2015, an Brett 267 einen hübschen Sieg. Hier (Diagramm links) erspähte er den zugleich besten und sehr hübschen Zug Ta6!, für Schwarz der Anfang vom Ende. Ob er die wahrscheinlich kürzeste Bundesliga-Gewinnpartie jemals mit dem gleichen Motiv kannte?

In der U16 hat sich der auf GM-Norm-Kurs segelnde Marius Deuer nach seinem Siebtrundenremis gegen Kacper Piorun zwar um einen halben Punkt von seinem Dauerkonkurrenten Leonardo Costa abgesetzt, liegt aber gleichauf mit FM Zi Han Goh aus Singapur. Der 15-Jährige aus dem WM-Ausrichterland gilt als eines der größten Talente Singapurs. Trotz intensiver schulischer Verpflichtungen und einiger außerschulischer Aktivitäten will er Singapurs nächster Großmeister werden.

Auslosung der achten Runde: (v.l.) Gerhard Bertagnolli, Sandra Schmidt, Sebastian Siebrecht, Ralph Alt. | Foto: Steffen Piechot

In seiner Heimat sorgte Zi Han Goh im Lauf des Jahres 2022 für Aufsehen, als er nach dem russischen Überfall auf die Ukraine durch Schachunterricht und Simultanvorstellungen Geld für ukrainische Flüchtlinge sammelte. Die Idee war ihm gekommen, weil er bis dahin wöchentlich mit dem ukrainischen Großmeister Yuri Vovk trainiert hatte. 13.000 Dollar kamen zusammen. „Beim Schach geht es für nicht nur ums Gewinnen und darum, mein Rating zu verbessen. Ich benutze es auch, um der Gesellschaft zurückzugeben“, erklärte Goh in einem TV-Interview.

Für Zi Han Goh lief es gegen Tobias Ammon gar nicht gut, aber dann ließ sich Schwarz auf eine taktische Sequenz ein, in der er wahrscheinlich die weiße Pointe 25.Df3! mit Figurengewinn übersehen hatte.

In der U2400-Klasse stand FM Ulrich Weber vom SV Hofheim während der siebten Runde kurz davor, sich ein wenig von den Mitbewerbern abzusetzen. Der Zweitligaspieler zwang der kasachischen Nummer eins Rinat Jumabayev eine lange Verteidigungsschlacht auf, die der Großmeister letztlich erfolgreich absolvierte.

Nicht glücklich mit seiner Stellung: Rinat Jumabayev musste seine ganze Klasse abrufen, um gegen Ulrich Weber den halben Punkt zu retten. | Foto: Sandra Schmidt

Im Kampf um den Frauenpreis hat Yelyzaveta Hrebenshchykova mit 5,5 Zählern die alleinige Führung übernommen. Die Ukrainerin gewann glatt gegen CM Jonas Rempe, der kein Mittel gegen den Sizilianer seiner Gegenspielerin fand.

Yelyzaveta Hrebenshchykova führt nach sieben Runden die umkämpfte Frauenkonkurrenz an. | Foto: Sandra Schmidt

In der 6. Runde der Offenen Internationalen Bayerischen Meisterschaft am Tegernsee hat Yvonne Malinowsky zu Halloween die passende Eröffnung gewählt: das Halloween-Gambit. Diese gewagte Eröffnung beginnt mit einem frühen Springeropfer, das den Gegner überraschen und aus der Eröffnungstheorie herauslocken soll, kostet aber eine Figur. „Hätte ich mal solide gespielt“, stellte Malinowsky hinterher fest, war aber doch damit zufrieden, im dem Anlass entsprechenden Duell „Süßes oder Saures“ das Saure zu ziehen. Ihr jugendlicher Gegner Jakob Muhl habe es verdient und sei außerdem ein liebenswerter Zeitgenosse.

Yvonne Malinowski bekommt den Kreativitätspreis für ihre Idee, an Halloween das Halloween-Gambit zu spielen. | Foto: Sandra Schmidt

Das Halloween-Gambit hieß übrigens nicht immer so. Schon im 19. Jahrhundert lief es unter „Müller-Schulze-Gambit“, was sich nicht auf Schachmeister dieses Namens bezog, sondern andeuten sollte, dass es sich um eine Hinz-und-Kunz-Eröffnung handelt. Der Name „Halloween-Gambit“ kam erst Ende der 90er-Jahre auf, als der deutsche Informatiker Steffen A. Jakob sein Programm „Brause“ im Internet Chess Club diese Eröffnung rauf- und runterspielen ließ.

Yvonne Malinowsky kommentiert:

Die OIBM bringen nicht nur erfahrene Meister an die Bretter. Auch in diesem Jahr scheint die Stärke des Nachwuchses durch, wie gestern im Bericht zur sechsten Runde ausführlich erwähnt. In seinem neuesten Video geht nun Gunny auf die Erfolge einiger Talente ein. Ihn hat der 15-jährige FM Timur Toktomushev aus der Schweiz mit seinem Sieg gegen IM Axel Heinz besonders beeindruckt. Gunny analysiert die Partie – und berichtet vom Blitzturnier, bei dem er Fünfter geworden ist.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

In St. Louis, New York oder Charlotte hat Titas Stremavicius schon Schachturniere gewonnen. In Deutschland nie – was mit dem Umstand zusammenhängt, dass er vor der 27. OIBM erst einmal in Deutschland gespielt hat. Am Tegernsee ging es für den Großmeister aus Litauen prima los: Vier Partien, vier Punkte. Nach der vierten Runde nahm sich Stremavicius die Zeit für ein Interview.

Titas Stremavicius. | Foto: Sandra Schmidt

Titas, zum ersten Mal am Tegernsee?

Ja, es ist tatsächlich mein erstes Mal hier, und es ist erst das zweite Mal insgesamt, dass ich in Deutschland spiele. Von Litauen aus ist es zwar nicht so weit, aber irgendwie hat es sich bisher nicht ergeben.

Wie kam es jetzt zu deiner Teilnahme?

Ein Schachfreund von mir, auch aus Litauen, erwähnte das Turnier. Ich schaute es mir an, fand die Kontaktdaten und schrieb eine E-Mail. Sebastian antwortete binnen einer halben Stunde. So kam der Kontakt zustande. Jetzt bin ich hier.

Wie gefällt es dir?

Der erste Eindruck war nicht so toll, weil der Bus am ersten Tag völlig überfüllt war. Aber als ich dann anfing, zum Spielort zu laufen, wurde es viel ruhiger und angenehmer. Auch wenn der Weg etwa 50 Minuten dauert, ist es sehr schön. Der Weg führt am See entlang, die Natur ist wunderbar.

Und schachlich?

Ich versuche einfach, interessante Partien zu spielen. Das Turnier ist ein bisschen langsamer, eine Partie pro Tag, meine Energie sollte ausreichen. Aber im Schach weiß man nie. Ein schlechter Zug kann alles ruinieren.

Bisher kannst du zufrieden sein.

Es läuft gut, auch wenn es schon einige brenzlige Momente gab. In der ersten Runde war ich einer der Letzten, die noch gespielt haben, und heute war ich auch mal in einer schlechteren Position. Aber die Ergebnisse stimmen.

Als Schachfan und Fan der deutschen Nationalmannschaft muss ich dich auf die Schacholympiade ansprechen. Dritte Runde, Litauen gegen Deutschland, Ihr habt überraschend gewonnen, und du hast Vincent Keymer besiegt. Wie lief das Match aus eurer Perspektive?

Wir waren Außenseiter, ganz klar. Die deutsche Mannschaft war an allen vier Brettern deutlich stärker, vielleicht im Schnitt um 150 Punkte. Es war ein großer Überraschungssieg für uns. Viele Dinge mussten gut laufen, um das Match zu gewinnen. Die große Wende ganz am Ende an Brett drei hat das Match gedreht. Mein Sieg gegen Vincent kam schnell zustande. Ich hatte mir sagen lassen, er sei krank und nicht in Topform. In der Partie spielte ich eine Eröffnung, in der er hätte remis machen können, aber ich bin davon ausgegangen, dass er das vermeiden würde. Bis ganz zum Schluss ist er dem Remis ausgewichen, dann der Fehler, …c5-c4, und plötzlich war die Partie für mich gewonnen.

Ist Vincent der höchstbewertete Spieler, den du je besiegt hast?

Ja, mit einigem Abstand. Das war ein Karrierehighlight für mich. Hinterher bekam ich ein paar Gratulationen, aber auf den Ausgang dieses Mannschaftsturniers hatte unser Sieg wenig Einfluss. Deutschland kam unter die ersten 10, wir standen am Ende auf Platz 41.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Bist du Schachprofi?

Im Moment spiele ich mehr oder weniger Vollzeit, aber ich plane eine Veränderung. Ich habe vor zwei Monaten meine Greencard für die USA bekommen und will bald zurückkehren. Vor etwa vier Jahren habe ich in Dallas meinen Abschluss in Finanzen und Wirtschaft gemacht und spiele seither Schach und Poker. Jetzt möchte ich zurück in die USA und wahrscheinlich langfristig mehr in Richtung Poker gehen.

Ist Poker unter Schachspielern noch so verbreitet wie vor einigen Jahren?

Nicht mehr ganz so sehr, aber es gibt nach meiner Wahrnehmung weiter eine große Zahl von Schachspielern im Poker. Genaue Zahlen dazu gibt es nicht, Poker ist in weiten Teilen online und anonym, insofern weißt du von vielen Schachspielern nur, dass sie Poker spielen, wenn sie davon erzählen. Ich mag das Spiel jedenfalls, es ähnelt in mancherlei Hinsicht dem Schach.

Was sind deine Pläne nach dem Tegernsee?

Direkt zurück in die USA. Dort spiele ich erst in einem Rundenturnier und danach bei den US Masters, dem wohl stärksten Open in den Staaten. Dieses Jahr wird auch Fabiano Caruana dabei sein, was das Turnier noch interessanter macht. Fabiano spekuliert auf Punkte für den FIDE Circuit, über den er sich fürs Kandidatenturnier qualifizieren kann.

Stremavicius‘ Drittrundensieg, kommentiert von ihm selbst: