Silberstreifen, Red Edition: Zwischen frühem Vogel und zweiter Maus

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2 Grad. Der Himmel glasklar, die letzten Sterne verabschieden sich von ihrer Nachtschicht. Und ich? Joggen. Um diese Uhrzeit. Freiwillig.

„Levi“, sage ich, noch voller Tatendrang, „du weißt doch: Der frühe Vogel fängt den Wurm!“

Levi lugt im Schein meiner Nachttischlampe unter der Decke hervor. Draußen ist es stockdunkel. „Ja, Mama, aber erst die zweite Maus frisst den Käse. Denk mal drüber nach.“

Und zack, Decke wieder über den Kopf. Diskussion beendet.

Zum Zwecke der Dokumentation sei es gezeigt, auch wenn es bei weitem nicht an die Wirklichkeit heranreicht: Die Handykamera kämpft mit dem frühen Morgenlicht. | Foto: Yvonne Malinowski

Na gut, dann eben ohne Levi. Wir laufen los, Richtung See. Der Himmel, wolkenlos, schimmert in Farben, die irgendwo zwischen „Pfirsichsirup“ und „wahrscheinlich nicht mal im RAL-Register“ liegen. Ich habe so etwas schon mal gesehen, in meiner App für die smarten Wohnzimmerlampen. Da heißt die Szene „Morgenpanorama“. Nur dass das hier keine Simulation ist. Kein LED-Flackern, kein Stromverbrauch, echte, handgemachte Natur. Und das ist, ehrlich gesagt, ziemlich beeindruckend.

Als das Pfirsichsirup dem Himmelblau gewichen ist und die Sonne über den Horizont lugt, lässt sich die Szenerie in ihrer Farbenpracht fotografisch einfangen. Solange die Sonne hinter den Bergen weilt, ist das schwieriger. | Foto: Yvonne Malinowsky

Ich versuche, das festzuhalten. Meine Kamera gibt ihr Bestes und scheitert glorreich. Das menschliche Auge bleibt ungeschlagen. Ich kann’s einfach nicht einfangen. Da fällt mir der Fotograf Stev Bonhage ein, dessen Bilder gestern meinen Bericht so perfekt veredelt haben. Der könnte dieses Licht bestimmt einfangen. Ich stelle mir sein Foto geradezu bildlich vor, wie es aussehen könnte. Leider ist mitten in der Nacht nicht die charmanteste Zeit, um jemanden nach Sonnenaufgangsbildern zu fragen.

Er hätte das Morgengold aus Pfirsichsirup einfangen können. Aber ihn am frühen Morgen aus dem Bett klingeln und ans Ufer schleifen? Das wäre nicht charmant. | Foto via Freestyle Chess

Wir blicken zu den Bergen. Nichts. Die Sonne nimmt sich Zeit. Aber dann beginnen die Gipfel hinter uns in einem tiefen Rot zu glühen. Erst zart, dann immer stärker, bis das Licht kippt und plötzlich alles in goldener Klarheit steht. Der Moment zwischen Schatten und Sonne dauert nur Sekunden, aber er trägt eine Magie, die sich nicht beschreiben lässt. Er ist von der Sorte, für die sich jede schlaflose Nacht lohnt.

Ich schreibe das jetzt, aus dem Moment heraus, mit kalten Fingern und glühendem Herzen. Vielleicht hat Levi recht: Wer zu früh jubelt, verpasst manchmal, was danach kommt.

Doch wenn man immer nur wartet, bis etwas endgültig perfekt ist, verpasst man die Perfektion des Augenblicks. Und dieser Morgen, der war es wert, festgehalten zu werden.

Laut Wetter-App soll es morgen wieder so schön werden. Sonnenaufgang 7:03 Uhr „hinter den Bergen bei den sieben…..“, sichtbar allerdings für uns erst um 7:39 Uhr.
Zwischen frühem Vogel und zweiter Maus liegen also 36 Minuten. Zeit genug, sich anzuziehen, den Kaffee zu verschütten und trotzdem rauszugehen.

Fünfmal bricht für den Schachtross am Tegernsee noch ein Morgen an. Möge es wieder so wunderschön werden!

Sonnenaufgang am Tegernsee. | Fotos: Yvonne Malinowsky